Eine Fußnote zur Lorenzer-Affäre (2022)

Das Statement bezieht sich auf die in der Zeitschrift Freie Assoziation (FA) geführte Debatte um die NSDAP-Mitgliedschaft Alfred Lorenzers

Robert Heim

8/1/2022

Worauf die bisherigen Beiträge in der FA hinauslaufen, aber weiterhin – erst recht mit den umtriebigen »100 Jahren Lorenzer« – Desiderat bleibt, ist eine Ethnopsychoanalyse eines deutschen Wissenschaftsclans. Sie führt zu einigen desolaten Befunden.

Diese liegen selbst dann vor, wenn inzwischen etwa Martin Karlson den Parteieintritt relativiert. Er spricht in einer weiteren Stellungnahme von einer »angeblichen NSDAP-Mitgliedschaft« und stellt die von der Initiativgruppe der Debatte in die Welt gesetzte Antwort des Bundesarchivs, er sei seit dem 1.9.1941 Mitglied gewesen, infrage. Auf dieser Prämisse fußte die bisherige Debatte. Man fragt sich, wie die »Angaben aus den zugesandten Dokumenten« genau lauten, die der Recherche der Initiativgruppe vorlagen.

Damit schwächt Karlson einen archivarisch autorisierten »Parteieintritt« gegen eine »Bewerbung« ab, führt also eine neue Differenzierung zwischen Wunsch, Intention und Aktenlage ein. Für eine psychoanalytische Biografik Lorenzers bleibt der unterschriftlich bekräftigte Wunsch ein Schwergewicht, das niemanden erleichtert, schon gar nicht Lorenzer nachträglich entlastet. Man schätzt in der Psychoanalyse einen Wunsch genauso wie eine nackte Tatsache. Offenbar herrscht innerhalb des Clans eine Konfusion, die eine Ethnopsychoanalyse zum geeigneten Instrument der weiteren Aufarbeitung macht. So oder so:

- Anders und mehr als bei Persönlichkeiten wie den Mitscherlichs oder Richter durfte Lorenzers Werk den Anspruch stellen, erstmals nach dem NS in Deutschland eine einigermaßen kohärente psychoanalytische Theorie entwickelt zu haben, die in der internationalen Psychoanalyse zumindest Respekt verdient hätte. Dieser Respekt bleibt jetzt kontaminiert, diskreditiert, wenn nicht verspielt.

- Ebenso bitter ist es, dass diese Kontamination eine im deutschen Sprachraum etablierte Position einer Freud‘schen Linken überschattet. Die Allianz zwischen Psychoanalyse und kritischer Theorie wird sich weiterhin – was seit Langem zu meinen eigenen Interessen gehört – neue Quellen erschließen müssen.

- Man kann an Paul Parins einschlägige Arbeit erinnern: Diese Ethnopsychoanalyse konfrontiert den Clan mit der Geschichte seines Clan-Gewissens und seiner Filiationen. Das Tabu, um das sich diese drehten – das Schweigen um Lorenzers Zeit im NS im Einklang mit seiner Idealisierung – ist jetzt angetastet und von der historischen Wahrheit eingeholt. Der Meister konnte für seine Schüler nur eine theoretisch blütenreine weiße Weste tragen. Das Kind, das noch frei und wach nach »des Kaisers neuen Kleidern« fragt, durfte es zu dessen Lebzeiten und weit darüber hinaus nicht geben.

- Ein neueres Rauchzeichen aus einem Lorenzer-Stamm findet sich am Schluss des Editorials der FA vor guter Jahresfrist (1+2/2020): Man reibt sich die Augen, wenn hier Lorenzer als »unser eigener intellektueller Wahl(groß)vater« (S. 10) firmiert. Man muss diese Formel gar nicht erst einer »methodischen und zugleich methodologischen tiefenhermeneutischen Rekonstruktion« unterziehen. Ihr latenter Sinn tritt ohne besondere Tiefe unübersehbar zutage. In einer familialistischen Metapher wird Lorenzer zum Patron, zur Vaterrepräsentanz eines Familienunternehmens erkoren und die 1. Person Plural pauschal mit Redaktion, FA und – weil die FA ihr Organ ist – zwischen den Zeilen auch noch mit der GfpS identifiziert. Oder wer spricht hier im Namen dieses Plurals und beansprucht damit – »unser eigener …« – ein symbolisches Familieneigentum?

- Ins selbe Kapitel fällt die deutungsbedürftige Prokrastination meines offenen Briefes an Hans-Dieter König seitens der FA-Redaktion.

- Man staunt und fragt sich, ob man einer Sozietät angehört, zu deren Patron ein ehemaliges NSDAP-Mitglied (oder intentionaler Bewerber) auserwählt wird, das diese Tatsache im Zenit seines Ansehens verschweigen musste und damit seine Gefolgschaft mit ihrem Clan-Gewissen Jahrzehnte später in eine arge Bredouille brachte. Das epistemische Vertrauen, das in Lorenzer und seine Theorie gesetzt wurde, bleibt erschüttert.

- Aus dieser Bredouille werden auch aktuelle »100 Jahre Lorenzer« nur dann führen, wenn man die Courage für diese Ethnopsychoanalyse des eigenen Clans aufbringt. Dies aber erfordert den schonungslosen fremden Blick von außen. Über die Lorenzer-Affäre wird Gras wachsen; als Lorenzer-Paradox wird sie in die Wissenschaftsgeschichte der deutschen Nachkriegspsychoanalyse eingehen.

- Groucho Marx würde erneut witzeln, dass er keinem Club beitreten möchte, der ihn als Mitglied akzeptiert. Erst recht nicht einer Gesellschaft, deren väterliche Genealogie und Filiation nun auch noch in die NSDAP zurückreicht. Und sei es auf den signierten Wunsch, dieser Partei beizutreten. Ein transgenerativer Schatten des NS hat den Clan nicht verschont, seine Aufarbeitung von Vergangenheit und Gegenwart ist unabgeschlossen.