Psychoanalytische Aufklärung heute
Ansprache anlässlich der Preisverleihung an der Tagung zum 75. Erscheinungsjahr der Zeitschrift PSYCHE (erweiterte Fassung) Tagungstitel: Aufklärung im Angesicht der Katastrophe. Haus am Dom, Frankfurt a.M., 07.05.2022
Robert Heim
5/7/2022
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitglieder der Jury und der PSYCHE-Redaktion,
sehr geehrte Frau Hartwig,
ich bedanke mich für die Zuerkennung dieses Preises – dies in der allgemeinen Stimmung einer bedrückenden historischen Zäsur, dies am Ende einer Veranstaltung, die die Aufklärung einmal mehr ins nackte Angesicht einer Katastrophe blicken lassen musste. Es ist ein schmerzlicher, im Grunde traumatischer Blick, abermals ein Blick in den eigenen Spiegel, aber genau das meinten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung am Ende des 2. Weltkrieges.
Hätte die PSYCHE den Preis nicht 2021, sondern in diesem Jahr ausgeschrieben, wäre alles anders gekommen. Ich bin mir sicher, sämtliche Teilnehmer hätten noch einmal Freuds Arbeiten über den Krieg, Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) oder Warum Krieg? (1933) in die Gegenwart geholt.
Leben heißt teilen: angefangen von der Zellteilung bis zur Gerechtigkeit der Verteilung von Gütern und Ressourcen dieser Welt, bis zur weltweit geteilten Sorge um Krieg und Frieden, um Klima und Naturzerstörung. Ja, bis zur Teilung des Unbewussten. Denn selbst dieses gehört einem ja nie ganz allein. Und schließlich bis zur Teilung eines Preises. So freut es mich natürlich, diesen hier gemeinsam mit Valerie Schneider entgegenzunehmen.
Wer von Aufklärung spricht, wird nie von Immanuel Kant schweigen können, dessen in den historischen Stein gemeißelte Sentenzen aus dem Jahr 1784 auch heute als Leitmotive über der Tagung stehen: »Mündigkeit ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.«; Mündigkeit ist das »Vermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« Fragt man sich in der Psychoanalyse nach einem Äquivalent dieser oralen Metapher eines freien Sprechens und Denkens, liegt die Ich-Autonomie nahe. Doch kann jede Ich-Autonomie keine narzisstische, eigenmächtige Instanz der Selbstgesetzgebung sein, wenn diese ohne Beziehung auf ein Objekt, ohne Anerkennung des Anderen gedacht wird. Deswegen kann das Ich immer nur in Vertragsverhältnissen mit inneren Objekten, mit Es und Über-Ich, mit dem Körper und der äußeren Realität leben, dabei aber Selbstbestimmung und unabhängige Urteilskraft gewinnen. Deshalb drängt sich die die Bezugnahme auf die Idee eines Naturvertrages des französischen Wissenschaftsphilosophen Michel Serres auf, im Falle der Psychoanalyse ein Vertrag mit der inneren Natur – ihren Trieben, ihren Repräsentanzen und Phantasmen –, als welche ihr Gegenstand bestimmt werden kann, ohne diesen naturalistisch zu verkürzen.
Es gibt von Adorno in seinen Gesprächen über Erziehung zur Mündigkeit 1969 drei Hinweise zu dieser Fähigkeit und Kompetenz: Notwendige Autoritäten müssen vom Kind im Prozess des Mündigwerdens überwunden werden; dann setzt Mündigkeit die Distanz zu jeder Identifikation mit einer normativen Rolle voraus; schließlich ist Erziehung zur Mündigkeit eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand – was immer dies im Hinblick auf den mündigen Bürger, den mündigen Konsumenten, den mündigen Patienten, zwangsläufig also auch für den mündigen Psychoanalytiker heißt. Der Idealtypus des mündigen Psychoanalytikers wartet noch auf seine Porträtierung. Denn selbst eine psychoanalytische Ausbildung ist keine Sicherheitsgarantie für eine Mündigkeit, die die Chuzpe nicht scheut, mit dem »establishment« psychoanalytischer Institutionen (Bion) nötigenfalls auf Kollisionskurs zu gehen.
So gesehen, ist das Vermögen des Ich, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen, die diplomatische Kunst der Psyche, etwa – kleinianisch betrachtet – zwischen paranoid-schizoider und depressiver Position zu vermitteln. Oder das Vermögen des Subjekts, wenn man dasselbe lieber mit der lacanianischen Psychoanalyse denken möchte, zwischen dem Realen, dem Imaginären und dem Symbolischen ein stets prekäres Gleichgewicht zu halten.
Ein Begriff der Katastrophe findet sich bereits in der Gründungsurkunde der Freud‘schen Psychoanalyse, soweit Katastrophé (griech. katá stréphein) in Poetik und Dramaturgie der antiken Tragödie einen Drehpunkt bezeichnet: eine Wendung der Tragödie zum Guten oder Schlechten, eine Drehung, die das tragische Subjekt, wenn es denn diesen Drehpunkt überhaupt überlebt, immer mit der schweren Bürde unauflösbarer Paradoxien leben lässt. Ein Analogon dieser Drehpunkte bilden in unserer krisenhaften Gegenwart die Kipppunkte: klimatisch, wenn die Erderwärmung eine irreversible Grenze zu überschreiten beginn; politisch und geopolitisch: wenn Demokratien in ihrer Substanz von Autokratien und Diktaturen mit hybriden Kriegen erodiert werden.
Kann man einer Katastrophe noch ins Angesicht blicken, wenn man wie Ödipus schon die eigene Selbstblendung als symbolische Kastration, also eine Verschiebung vom Genitale auf das Auge, vorgenommen hat? Er vollzog diese Wendung wenig zuvor, als er erkennen musste, dass er selbst der Mörder des Vaters ist und der Mutter beiwohnte. Aber es ist ein Wendepunkt der Katastrophe zum Guten: Theben ist von der Pest befreit, Ödipus begibt sich nach der Selbstblendung demütig in die Verbannung. Diese Selbstblendung ist das Negativ der Selbstaufklärung von Ödipus, und diese geht mit einer Katastrophe im tragischen Sinne einher. In der Folge besetzt Ödipus die depressive Position, nimmt Schuld, Reue und Trauer auf sich, nachdem er gegen fundamentale Gesetze und Verbote der Kultur – Inzestverbot, Tötungsverbot – verstoßen hat.
Nach Freud hat Bion diese »katastrophische« Dimension der Psychoanalyse fortgeschrieben, als er klinisch von einem catastrophic change sprach. Die Katastrophe wird zum entscheidenden Ereignis im Leben eines Menschen. Das kann ein Trauma, ein Krieg sein, eine große, aber scheiternde Liebe, eine schwere Krankheit, es kann eine lange und verändernde Analyse sein, oder auch nur Folge der Wirkung einer tiefen Deutung, die im Patienten die Katharsis auslöst – um es noch in einer älteren, der griechischen Tragödie verbundenen Sprache von Freuds Psychoanalyse zu sagen. Katastrophen dieser dramatischen und weicheren Art bilden die »Zäsuren« im Leben, ohne die dieses nicht zu verstehen ist.
In einem Gedankenspiel kann man sich Ödipus heute vor dem Chor und Tribunal der Dialektik der Aufklärung vorstellen. Die Anklage lautet nicht mehr nur auf einen Verstoß gegen Grundgesetze der menschlichen Zivilisation; eine weitere Anklage würde ihn des Naturvertragsbruchs bezichtigen. Für den französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss ist ein Mythos immer die Summe seiner Transformationen, somit auch im Falle von Ödipus keine geschlossene sophokleische Einheit von Ort und Handlung. Es gibt also verschiedene Varianten und Fortschreibungen des Ödipus-Stoffes. Nur schon in der Psychoanalyse mussten ein weiblicher Ödipuskomplex oder seine Frühstadien erforscht werden, dann gibt es interkulturelle Erkenntnisse zu einem afrikanischen Ödipus, zu einem iranischen, chinesischen oder japanischen. Der russische wird uns wohl die nächste Zeit vor allem deshalb beschäftigen, weil der »russischen Seele«, soweit Putin sie ideologisch vereinnahmt, nicht mehr zu trauen ist. Ödipus spricht polyphon mit verschiedenen Zungen, nicht nur altes Griechisch und neues Freud’sches Deutsch aus der vorletzten Jahrhundertwende. Dass das literarische – und inzwischen auch in die Psychoanalyse eingesickerte – Konzept der Polyphonie vom sowjetischen Semiotiker und Kulturtheoretiker Michail Bachtin am Werk von Dostojewski entwickelt wurde, mag man als eine der Paradoxien erkennen, von denen die Krebsgänge der Aufklärung randvoll sind.
Wenn es mit der Dialektik der Aufklärung und ihrem Motiv des »Eingedenkens der Natur im Subjekt« ein fundamentales Verbot der Kultur gibt, die Natur, von der sie lebt, grenzenlos zu beherrschen und zu zerstören, dann kann diese Transferierung des antiken Helden in die säkularen Katastrophen eines Klimawandels, einer Pandemie oder eines Krieges Sinn machen. Ödipus starrt hier wie Walter Benjamins »Engel der Geschichte«, einer kleinen Zeichnung von Paul Klee entnommen, vom Sturm der Vergangenheit getrieben und mit dem Rücken zur Zukunft auf einen wachsenden Trümmerhaufen des Fortschritts – eine Summe seiner Potenziale der Destruktivität und Selbstdestruktivität, die er mit einem Ethos der depressiven Position abgleichen muss.
Können wir in der Psychoanalyse von einer Ethik der depressiven Position sprechen? Was soll Ethik mit der in den ersten Lebensmonaten des Kleinkindes nachgewiesenen Mischung von Trieben, Affekten und Abwehrformen zu tun haben, die um Schuld und Trauer, Sorge und Wiedergutmachung eines in unbewussten Phantasien beschädigten, ja zerstörten Objekts kreisen? Man muss keineswegs schwerer depressiv sein, um die depressive Position zu besetzen, sicher aber einigermaßen resilient gegen manischen Überschwang und hybride Selbstherrlichkeit. Die angewandte Psychoanalyse lebte immer davon, dass sie ihre in der klinischen Praxis gewonnenen Begriffe als Denkmodelle auf Geschehnisse in Gesellschaft und Geschichte, zwischen Natur und Kultur überträgt und sie als Deutung in die wissenschaftliche und öffentliche Arena wirft. Und damit immer die Selbstreflexivität der Aufklärung bereichert. Sie tut dies übrigens konsequent im Sinne von Adornos methodischem Forschungsparadox aus den 1950er Jahren, »in den innersten psychologischen Zellen auf Gesellschaftliches« zu stoßen und damit zu postulieren, »das Individuellste [sei] das Allgemeinste.«
Man hat die Bilder noch im Kopf: Putins monströse lange Tische, seine 10-Meter-Distanzen selbst zu seinem eigenen Sicherheitsrat: Bilder, die zeigten, dass autokratische und tyrannische Macht einsam macht. Und dass einsame Macht paranoid macht. Man kennt das aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Adorno hat noch im kalten Krieg von paranoiden Zäsuren in Gesellschaft und Geschichte gesprochen, die zu deren »dialektischen Knotenstellen« werden. In diesem Knoten ist stets eine potenzielle Katastrophe enthalten.
Strafrechtlich wird Putin als Kriegsverbrecher und wegen versuchten Völkermords zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Würde er – es muss leider Wunschphantasie bleiben – vor einem internationalen Tribunal der Psychoanalyse erscheinen, müsste von ihm die Übernahme der depressiven Position eingeklagt werden, zu der er infolge Schuldunfähigkeit und wahnhafter Rationalisierung natürlich gar nicht bereit wäre. Mit anderen Worten: Die Einsicht in, ja Trauer um und Schuld für die Zerstörung, Verwüstung und Katastrophe aus einem paranoiden Geist der Rache, des Revanchismus und der verlorenen imperialen Größe. Die unbewusste Matrix für diesen Geist hat die kleinianische Psychoanalyse in ihrem Grundbegriff der paranoid-schizoiden Position gezeichnet. Auch Jacques Lacans Spiegelstadium kann, weil dieses Stadium ebenfalls eine vergleichbare Position in der menschlichen Psyche ist, als Modell dieses Geistes verstanden werden. Russland ist schließlich das Land der Doppelgänger, die in ihrem Spiegelbild ein paranoides persekutorisches Double wähnen, das sie vernichten müssen. Oder von dem sie sich selbst vernichtend bedroht sehen.
Abgesehen davon wäre eine Ethik der depressiven Position ein psychoanalytisches Verhandlungsmodell für Kriegsfolgen, in denen die Parteien ihre gegenseitige Zerstörung erkennen, sich aus der Eskalation von Vergeltung und Rache befreien und einen »kommensalen« Frieden anstreben, also mit Bion: ein gemeinsames, geteiltes Objekt, ein kommensales Objekt, das zum Vorteil von allen dreien bleibt. Für den Ukraine-Krieg wird dieses Modell leider zu Putins Lebenszeit nicht zur Geltung gelangen.
Freud hat 1915 in Zeitgemäßes über Krieg und Tod und 1933 in Warum Krieg? von einer Enttäuschung des Krieges gesprochen, von einer Enttäuschung der Hoffnung auf eine dauerhafte Befriedung der Menschheit, einer Enttäuschung von Einsteins Optimismus in seinem Appell an wissenschaftliche Experten im Jahr 1933. Es bleibt dies auch eine Enttäuschung der Aufklärung, und das bitterste Eingeständnis dieser Enttäuschung finden wir in dem Gemeinschaftswerk von Horkheimer und Adorno am Ende des letzten Weltkrieges. Aber Enttäuschung ist im Jahre 2022 ein zu verharmlosendes Wort. Es geht weit mehr um Wut, Entsetzen, um eine erneute Traumatisierung jedes aufgeklärten Denkens, aber doch nie um Ohnmacht, nie um mangelnde Entschlossenheit, nie um eine Kapitulation angesichts dieser Enttäuschung. Seit der Dialektik der Aufklärung ist die Aufklärung enttäuschungsresistent, indem sie gegen die Katastrophen resilient bleibt.
Erlauben Sie mir eine Nachbemerkung, die nur indirekt mit meinem Text zu tun hat, aber meines Erachtens eine Stimmung wiedergibt, die zu den polyphonen Stimmungslagen der depressiven Position gehört. Ich fragte mich: Gibt es eine Passage im Werk Freuds, die sowohl der Thematik der Tagung wie der humanitären Katastrophe des Ukraine-Krieges in Ton und Reflexion am angemessensten entgegenkommt? Ein Passus aus der dreiseitigen Miniatur über die Vergänglichkeit aus dem Jahr 1916 wirft bereits einen Blick auf die ein Jahr später erscheinenden Arbeit Trauer und Melancholie voraus, nimmt aber Bezug auf ein erstes Jahr des 1. Weltkrieges, dieser »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«. Er spricht von einer Begegnung mit einem Dichter im Sommer 1913 und schreibt:
»Ein Jahr später brach der Krieg herein und raubte der Welt ihre Schönheiten. Er zerstörte nicht nur die Schönheit der Landschaften, die er durchzog, und die Kunstwerke, an die er auf seinem Weg streifte, er brach auch unseren Stolz auf die Errungenschaften unserer Kultur, unseren Respekt vor so vielen Denkern und Künstlern, unsere Hoffnungen auf eine endliche Überwindung der Verschiedenheiten unter Völkern und Rassen. Er beschmutzte die erhabene Unparteilichkeit unserer Wissenschaft, stellte unser Triebleben in seiner Nacktheit bloß. […] Er raubte uns so vieles, was wir geliebt hatten und zeigte uns die Hinfälligkeit von manchem, was wir für beständig gehalten hatten. […] Wenn erst die Trauer überwunden ist, wird es sich zeigen, dass unsere Hochschätzung der Kulturgüter unter der Erfahrung von ihrer Gebrechlichkeit nicht gelitten hat. Wir werden alles wieder aufbauen, was der Krieg zerstört hat, vielleicht auf festerem Grund und dauerhafter als vorher.«
»Wir werden […]« Melancholisch blickt Freud hier auf einen unermesslichen Verlust zurück und rettet doch gegen den späteren Pessimismus der Katastrophe in der Dialektik der Aufklärung einen Funken Hoffnung. Wenn man Freuds Rede von einem Wir auf die Zeitenwende von heute überträgt, so würde dieses Wir nicht nur für 44 Millionen Menschen in der Ukraine stehen, sondern für die Anteilnahme und Solidarität einer demokratischen Welt, in der sich auch die Psychoanalyse nie »erhabene Unparteilichkeit unserer Wissenschaft« leisten konnte. Doch der wünschenswert »festere und dauerhaftere Grund« reichte für Freud gerade bis zu seinem Tod 1939 und dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, also kurze 23 Jahre, dann für uns nach diesem Krieg etwas längere 77 Jahre. Weltgeschichtlich gesehen, bleiben diese kurzen Friedensdividenden eine wenig tröstliche Marginalie, auch wenn sie die kostbare Zeit einer internationalen Friedensordnung enthielten.
Die russische Aggression gegen die Ukraine bricht ohne Not mit dieser Ordnung und zwingt ihr gewaltsam und grausam ihre eigene Vergänglichkeit auf. Freud schließt auch seine Miniatur mit der tiefen Skepsis, mit der er 1933 Albert Einsteins noch hoffnungsvollere Frage nach Warum Krieg? beantworten sollte. Mit seinen bleibenden Befunden zur menschlichen Destruktivität und Selbstdestruktivität ahnte Freud seit 1914, dass Friede in der Geschichte meist ein Friede zwischen Kriegen war und seine empfohlene – so ja noch seine eigene, ironisch und utopisch zugleich zugespitzte Formel – »Diktatur der Vernunft« ein verwundbares und fragiles Gebilde ist. Es gehört zur Erbschaft der Psychoanalyse im »Zeitalter der Aufklärung« (Kant), wohlverstanden nicht im »aufgeklärten Zeitalter«, diese Fragilität illusionslos nachgewiesen zu haben, ohne dessen Prinzipien – Mündigkeit und Selbstbestimmung, Rationalität und die »Gabe der Vernunft« (Freud) – preiszugeben.
Und doch ist die schärfste Waffe dieser Freud’schen »Diktatur der Vernunft«, das freie Wort, der rationale Diskurs, die Sublimierung der menschlichen Destruktivität, ein zu kostbares Gut, das nun erneut mit Waffengewalt verteidigt werden muss. Freud wusste dies, wenn er 1933 in Warum Krieg? glasklar auf einen »Fehler in der Rechnung« hinwies, »wenn man nicht berücksichtigt, dass Recht ursprünglich rohe Gewalt war und noch heute der Stützung durch die Gewalt nicht entbehren kann.« Freud war an dieser Stelle ein hellsichtiger, schonungslos aufgeklärter Genealoge des Rechts, und ein knappes Vierteljahrhundert lang, seit Zeitgemäßes über Krieg und Tod 1915 bis zu seinem eigenen Tod, legte er in seinem Werk eine Spur zur Dialektik der Aufklärung als philosophischer Reflexion einer Katastrophe – Auschwitz als Zivilisationsbruch, ein zweiter Weltkrieg nach 21 Jahren, Totalitarismus, ein Erstrahlen der »vollends aufgeklärte[n] Erde […] im Zeichen triumphalen Unheils.«
Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres ist mit seinen wiederholten Kassandrarufen ein prominenter Kämpfer für den Klimaschutz; noch Ende 2020 hat er die Menschheit zu einem Ende »ihres Krieges gegen die Natur« aufgerufen, sich also auf seine Art für deren »Eingedenken« stark gemacht. Ein gutes Jahr später ist Putins Krieg gegen die Ukraine ein Krieg im Krieg, der den Kampf gegen den Klimawandel wieder auf ganz andere Prämissen stellt und ein schnelleres Ende der fossilen Energie erzwingt. Zu diesen Prämissen gehört nun ein unerträgliches moralpolitisches Dilemma, das wiederum mitten in eine aktualisierte Stoßrichtung und Argumentation der Dialektik der Aufklärung führt: Eine fossile Lebensweise zerstörte mit ihrer grenzenlosen Naturbeherrschung nicht nur die Grundlagen des Lebens. Sie füllte zugleich eine barbarische Kriegskasse.
Um es abschließend noch einmal zu resümieren: Aus der Ausschreibung der PSYCHE zum Thema Psychoanalytische Aufklärung heute wollte ich am Beispiel von Klimawandel und Corona-Pandemie eine neue Lesart eines Leitmotivs aus dem Gemeinschaftswerk von Horkheimer und Adorno zu prüfen. Ich suchte nach einem psychoanalytischen Äquivalent für das »Eingedenken der Natur im Subjekt« und fand es im Konzept der depressiven Position der kleinianischen Psychoanalyse. In der Komplementarität mit einer frühen paranoiden Struktur der Psyche beschreibt dieses Konzept einen unbewussten Kreislauf, einen Circulus vitiosus von Vernichtung und Zerstörung, von Rache, Vergeltung und Verfolgung. Mit ihren Gefühlen, Affekten und gereiften Kognitionen der Einsicht, Trauer, Schuld, Dankbarkeit und Wiedergutmachung bietet die depressive Position einen Ausweg aus diesem fatalen Kreislauf.
Mir ging es darum, aus dieser klinischen Matrix ein Modell zu destillieren, das – wie in der angewandten Psychoanalyse, soweit sie »in den innersten psychologischen Zellen auf Gesellschaftliches« (Adorno) stößt, immer schon geläufig – auf die Beziehungen des Menschen zu seiner inneren Natur wie auf seine historische Praxis der wissenschaftlichen und technologischen Naturbeherrschung übertragen werden kann. Wenn aus dieser Naturbeherrschung eine zerstörerische Eskalation wird und den Planeten in Katastrophen und Unheil erbeben lässt, wird als Ergänzung des demokratischen Gesellschaftsvertrages ein neuer Naturvertrag notwendig. Erst recht mit dem Krieg in der Ukraine bleibt dies eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Für diesen Vertrag bietet das Modell der depressiven Position zumindest eine diskussionswürdige Anregung seitens der Psychoanalyse. Aber dies bleibt eine Idee, allerdings keineswegs eine mächtige. Freud konnte sie noch nicht kennen, ihre Ohnmacht allerdings in seiner Antwort an Einstein 1933 vorwegnehmen: »So scheint es also, dass der Versuch, reale Macht durch die Macht der Ideen zu ersetzen, heute noch zum Fehlschlagen verurteilt ist.« Ein Fehlschlag muss nicht immer in eine Katastrophe münden, aber auch er hat seine Kipppunkte, an denen die Ideen der Aufklärung ihre Ziele mit desaströsen Folgen verfehlen.