Psychoanalytische Notizen zum Ukraine-Krieg ... nach dem 07.10.2023
Robert Heim
12/31/2023
AG Psychoanalyse, Gesellschaft, Kultur (Dezember 2023)
Wir erinnern uns des alten Spruches: […]
Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Kriege.
Es wäre zeitgemäß, ihn abzuändern: […]
Wenn du das Leben aushalten willst,
richte dich auf den Tod ein.
Sigmund Freud
Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915)
I.
1930 beschreibt Freud am Ende seiner Studie Das Unbehagen in der Kultur eine Befindlichkeit, die knapp 100 Jahre später wieder als ohnehin dauerhaft virulente Stimmung die Welt beherrscht. Freud warnt neun Jahre vor dem 2. Weltkrieg, 15 Jahre vor dem Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki davor, dass die Menschen es mit der Beherrschung der Naturkräfte leicht hätten, »einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gutes Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung« (Freud 1930a, S. 506).
Seine Rede von einem Unbehagen im Titel wirkt heute fast schon harmlos, wären da nicht am Schluss die unheilschwangeren Töne einer heraufdämmernden Endzeit. Er sprach zwar noch vom »letzten Mann«, meinte aber die Auslöschung des menschlichen Lebens auf der Erde, die Selbstvernichtung der Menschheit als Spezies und Gattung. Man könnte behaupten, dies sei die apokalyptischste Passage im Gesamtwerk Freuds. Seine Prognose ist auf jeden Fall brennend aktuell geblieben. Auch heute hat die »Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb« (ebd.) oberste Priorität in der globalen und planetarischen Agenda. Klimawandel, Artensterben, Ukraine-Krieg, zahllose andere Kriegsschauplätze, Energiekrise, Corona-Pandemie und gespaltene Gesellschaften sind dabei nur die schwersten Symptome dieser Störung. Dies unter der Voraussetzung, dass Aggression und Selbstvernichtung nicht nur dann gegeben sind, wenn sich Menschen mit – immerhin eine zivilisatorische Errungenschaft – Worten, meist aber mit Fäusten und Waffen bekämpfen, sondern auch in Zeiten eines passageren Friedens die Ressourcen erschöpfen, von denen sie zugleich leben.
II.
Spätestens mit dem Ukraine-Krieg wird sich auch die Psychoanalyse zu einem reflektierten Bellizismus durchringen müssen, den man schon beim erklärten Pazifisten Freud aufspüren könnte. Schließlich war Freuds Maxime, sich auf den Tod einzurichten, wenn das Leben ausgehalten werden soll, eine – gerade für heutige Ohren anspielungsreiche – Umschrift des nicht weniger paradoxen antiken Spruchs »Wenn Du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Kriege«. Diese Paradoxie gehört wieder zu den trostlosen Wahrheiten, zu denen der Ukraine-Krieg seit Anfang 2022 eine demokratische Welt zwingt, die an dieser Wahrheit ihre größte Bewährungsprobe seit dem Ende des Kalten Krieges durchzustehen hat. Aber Freud war auch an dieser Stelle kein Mann trügerischer Illusionen, von denen sich eine neopazifistische Mentalität genauso wie die Akteure einer neoliberalen Globalisierung heute einmal mehr eine zuschulden kommen lassen müssen: »Der Krieg ist aber nicht abzuschaffen; solang die Existenzbedingungen der Völker so verschieden und die Abstoßungen unter ihnen so heftig sind, wird es Kriege geben müssen« (Freud 1915b, S. 354).
Müssen? Freud zeigt sich hier unübersehbar einer regulativen Idee der Gerechtigkeit zwischen den »Existenzbedingungen« aller Menschen verpflichtet. Für seinen Realismus aber blieben Kriege auf unbestimmte Zeit eine Notwendigkeit, gegen die eine reine pazifistische Gesinnung nicht ankommt. Selbst eine »Diktatur der Vernunft« nicht, die Freud 1933 nur kontrafaktisch und im Konjunktiv als »utopische Hoffnung« noch in die beginnende Tragödie zwischen Vernunft, Aufklärung und Barbarei brachte (vgl. Freud 1933b, S. 24). 1915 sprach er in Begriffen der Abstoßung und des Hasses zwischen Völkern mit ihren Religionen und Kulturen. Er dachte noch nicht im anthropologisch radikaleren Sinne einer der menschlichen Triebstruktur rätselhaft innewohnenden Tendenz zur Selbstvernichtung. Er nahm sich dieses Rätsels fünf Jahre später in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips weiter an, um die Kräfte zu erforschen, die dem Lustprinzip als – so eine treffende Metapher in Das ökonomische Problem des Masochismus – bestechlichem »Wächter unseres Seelenlebens« (Freud 1924c, S. 371), mithin des Lebens selbst, in den Rücken fallen. Freuds »Selbstvernichtungstrieb«, ein immer wieder begründungsbedürftiger, für ihn mit dem Todestrieb konvergierender Begriff, kennt zahllose klinische, gesellschaftliche, religiöse und historische Schauplätze seiner Macht, auf denen er erbarmungslos wütet – darunter eben Kriege. Deswegen konnte für Freud ein psychoanalytischer Bellizismus nicht tabu bleiben, selbst wenn er seine Antwort auf Albert Einsteins Fragen zur Verhütung des Krieges im Bekenntnis einer »konstitutionelle[n] Intoleranz [bei uns Pazifisten]« (Freud 1933b, S. 27) gegen ihn ausführte.
Doch wie steht der Psychoanalytiker zu Waffenlieferungen an die völkerrechtswidrig angegriffene Ukraine? Welchen offenen Brief, welches Manifest hätte er noch 2022 mit den Erkenntnissen seiner Wissenschaft, mit der Ethik seiner Profession und mit der Integrität seines Gewissens unterschrieben? Wie blickt er auf den Terror gegen Israel und seine Konsequenzen? Auch der Pazifist wird der alten Sentenz standhalten können, dass im Dienst des Friedens aufgerüstet werden muss. Freud hielt seine Antwort an Einstein in genau demselben Ton der Enttäuschung über die Kultureignung und Friedfertigkeit des Menschen wie bereits 1915 in seinen Betrachtungen Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Wenn wie in der Ukraine internationales Recht mit Gewalt zerstört wird, gewinnt eine Gegengewalt ihre Legitimität, um dieses Recht wiederherzustellen. Das gilt inzwischen einmal mehr für Israel, bei dem es um das nackte Existenzrecht gegen ein feindliches islamistisches Umfeld geht. Das Recht ist wie das Heilige nur die sublime Höhe einer elementaren Gewalt, gegen die eine regulative Gerechtigkeit und eine gesinnungsethische Friedensliebe allein nicht ausreichend schützen, sondern der Verantwortungsethik einer international vernetzten Rechtsstaatlichkeit bedürfen. Krieg ist die extremste Krise dieser Sublimierung, die an ihrem katastrophalen Ende in Schutt, in Trümmer und unzählige Tote zerfällt. Daran hat auch der Pazifist Freud nicht gezweifelt. Jeden ambivalenzfreien Pazifismus ernüchterte er folgerichtig, dies ebenfalls im Jahr einer Zeitenwende, die innerhalb von 12 Jahren Krieg, Vernichtung, Tod und unsägliches Leid über die Welt brachte:
»So scheint es also, daß der Versuch, reale Macht durch die Macht der Ideen zu ersetzen, heute noch zum Fehlschlagen verurteilt ist. Es ist ein Fehler in der Rechnung, wenn man nicht berücksichtigt, daß Recht ursprünglich rohe Gewalt war und noch heute der Stützung durch die Gewalt nicht entbehren kann« (Freud 1933b, S. 19).
Auch am Recht bleibt immer eine Blutspur roher Gewalt haften. Deshalb darf die Stärke des Rechts nicht durch das Recht des Stärkeren gebrochen werden. Und spätestens mit dem Ukraine-Krieg, nun mit dem Angriff der Hamas sollte selbst der glühendste Pazifist nicht mehr in die Falle dieses Rechnungsfehlers treten. Freud ließ offen, wie diese Gegengewalt am aussichtsreichsten vorgeht – »heute noch« nicht mit dem »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) oder mit dem Friedenssymbol allein. Die Psychoanalyse bescheidet sich ohnehin damit, dass sie zwar eine geistesgeschichtliche »Macht der Ideen« verkörpert, aber als solche keinen Krieg zu verhindern oder einen zu befrieden weiß.
III.
Im Zusammenhang mit den nuklearen Drohgebärden Russlands sind heute erneut Grundtöne aus dem biblischen Narrativ einer heilsgeschichtlichen »Endzeit«, einer am fernen Zeithorizont dräuenden Apokalypse zu vernehmen. Es ist wieder die Rede von einem nuklearen Armageddon zwischen Atommächten; im Kreml spannt man neue Fronten zwischen heiliger Rus und einem säkularisierten Westen. Stimmen der russisch-orthodoxen Kirche an der Seite Putins wärmen die Warnung vor der Wiederkehr des Antichrist am Ende einer zweitausendjährigen christlichen Ära auf. Zum neuen »Dritten Rom« soll Moskau als Kapitale einer eurasischen Zivilisation rund um die »russische Welt« werden.
Bei alledem spielt Sexualität eine zentrale Rolle. Es ist für die Psychoanalyse interessant zu beobachten, wie hinter einem religiös verbrämten Kulturkampf von langer Hand eine neue autokratische Sexualpolitik aufgebaut wurde, die einen heteronormativen Primat von Ehe, Familie und heroischem Patriotismus zu einem höchsten Wert sakralisiert. Mit diesem ideologischen Chor begleitet der Kreml den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und damit seinen Feldzug gegen den Westen.
Der Antichrist in seiner russischen Prägung gilt in Putins revisionistischer Geschichtsmythologie als Symbol für hedonistische Dekadenz und einer Welt in Satans Hand. Sein Tummelplatz sind die liberalen Demokratien des Westens und die Freiheiten ihrer Lebensmodelle, darunter die Freiheiten selbstbestimmter sexueller Lebensstile in ihrer neuen Vielfalt. Jesus, der Pantokrator russischer Ikonen, darf auf keinen Fall homosexuell sein, dafür Gottes Stellvertreter ein heteronormativer Patriarch, der einer Allianz zwischen Kreml und russisch-orthodoxer Kirche den Segen für einen brutalen Krieg erteilt.
Der Krieg gegen die Ukraine ist immer auch ein Krieg aus dem Geiste einer repressiven Sexualpolitik. Eine von deren Folgen zeigt sich in der sexuellen Gewalt gegen Frauen und Kinder, die für russische Soldaten zum Alltag eines hybriden Krieges gehört, ja zu der sie von ihren Kommandanten genötigt werden. Es ist die barbarische Rache des heteronormativen Primats am westlichen Pluralismus diverser Sexualitäten. Nicht nur die Ukraine soll vernichtet werden, sondern mit ihr gleich jedes Leben von – inzwischen als extremistisch eingestufter – LGBTQ in der heiligen Rus. Denn auch Russland hat ein demografisches Problem. Für Freud, der das sowjetische Experiment des Sozialismus noch zu seinen Lebzeiten als grandiose Verkennung der menschlichen Natur klassierte, wäre es bitter gewesen, nun zu sehen, wie Putins Geschichtspolitik als »Macht der Ideen« eine derart fatale Stärke gewinnen konnte.
IV. Ein generationaler Paradigmenbruch: Wissenschaftsbiografische Anmerkungen
Mit der Schockerfahrung des Ukraine-Krieges ist nicht nur von einer Zeitenwende die Rede, sondern auch von einer »Wissenswende« (Susanne Strätling). Begründet wird diese Wende mit dem Konzept des »systematischen Verlernens« von Gayatri Spivak: » […] eine paradoxe Handlung, in der Erkenntniszuwachs gerade im Wissensverlust liegt. ›Systematisches Verlernen‹ bedeutet, gezielt gesicherte Annahmen fallenzulassen und die Abhängigkeit von etablierten Denkstrukturen aufzugeben, um etwas zu erfahren, was zuvor in ebendiesen Strukturen im Verborgenen blieb« (vgl. Strätling 2023, S. 219).
Die Psychoanalyse muss deshalb nicht noch einmal neu erfunden werden, abgesehen davon, dass jeder Psychoanalytiker aus eigener Erfahrung weiß, was »systematisches Verlernen« in seiner Praxis bedeutet. Dieses Verlernen wird zumindest behandlungstechnisch am besten durch Bions Prägung der »negative capability« (John Keats) zu einer Grundhaltung des Analytikers abgedeckt; sie gehört zum Kern seiner Methode, die nicht zu Ritual und Hypertrophie verkommen darf. Jedenfalls wird die Psychoanalyse ihre Wissensbestände über Krieg und Gewalt, Barbarei und Grausamkeit, Aggressivität und Destruktivität, auch über die »Kulturheuchelei« (Freud) gerade bildungsbürgerlicher Milieus noch einmal durchdeklinieren müssen. Dies gilt gleichfalls für ihre Faschismus-Theorien. Auch sie sind herausgefordert, das historisch neue Phänomen eines putinistischen »Imperial- und Russo-Faschismus« (Karl Schlögel) mit ihren eigenen Mitteln zu verstehen. In Deutschland spricht man von einem tiefsitzenden »Russland-Komplex« (Gerd Koenen), der zur Vorgeschichte des Krieges gehört und den blinden Fleck in der Russland-Politik deutscher Regierungen benennt.
Genauso wie in anderen Disziplinen erschüttert der Ukraine-Schock psychoanalytische Wissenschaftsbiografien, die wie die unseren – also Biografien von zwei Nachkriegsgenerationen – von einer langen Friedensdividende lebten. Diese Dividende hat zweifellos auf ihre Psychoanalyse-Rezeption abgefärbt. Je mehr sie ausschüttete, desto kritischer – um es mit Marxens Polemik gegen die Junghegelianer zu sagen – durfte die kritische Kritik sein. Diese generationsspezifische Aneignung der Psychoanalyse sonnte sich ab den 1970er Jahren im Privileg einer friedensverwöhnten intellektuellen Komfortzone, die sich nun in einem späteren Lebensabschnitt einem fast schon tragisch zu nennenden Ende zuneigt.
Es ist zudem eine historisch unübersehbare Tatsache, dass die für eine »Generation Friedensdividende« maßgeblichen Theorien der Psychoanalyse allesamt von zwei Weltkriegen gezeichnet waren und von diesen geprägt wurden. Man kann an Bions Begriff des Containers erinnern: An ihm haften die traumatischen Spuren des jungen Panzerkommandanten auf den Schachtfeldern des 1. Weltkrieges. Beide Kriege bildeten historische Kontexte für Paradigmenbrüche zunächst in Freuds Denken, dann in der Psychoanalyse nach ihm. Es war der Cold War Freud (vgl. Herzog 2023), in dessen Epoche bis 1989 mit ihren hegemonialen Kämpfen um die Interpretation seines Werks sich diese Generation mit dem Rückenwind von 1968 ihren emanzipatorischen, subversiven, immer aber friedliebenden Freud zurechtschnitt. Mobilisierte sie sich zu Beginn der 1980er Jahre im Geiste eines militanten Pazifismus noch gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss, ist sie heute angesichts eines neuen Krieges in Europa gezwungen, sich mit Freuds zitierter römischer Maxime anzufreunden: Um Frieden zu erhalten, um eine zerstörte Friedensarchitektur wiederherzustellen, sind Aufrüstung und militärische Unterstützung notwendig.
»Panzer-Toni«, der Nickname des Grünen-Politikers Anton Hofreiter, zieht mit seinem verblüffenden Expertentum zu den Waffen für die Ukraine, die er schneller geliefert sehen möchte, die Sympathien seines Parteigenossen aus der psychoanalytischen Ecke auf sich. Dieser wiederum überlegt sich ohne schmerzliche Gewissensbisse, sein Aktienportfolio, gehegt und gepflegt für seine Altersvorsorge, um eine Position in der Rüstungsindustrie zu ergänzen und damit Sicherheit und Verteidigung von Republik und Demokratie in jeder Hinsicht ernster zu nehmen. Mit dem Begriff einer wehrhaften Demokratie in seiner Doppeldeutigkeit muss auch er sich anfreunden. Auch er, von Berufs wegen ein Vertreter des empathisch gesprochenen Worts, könnte sich hier gegen seine Gesinnung genötigt sehen, sich angesichts dieser Paradoxien des Weltgeschehens für neue Verteidigung, Aufrüstung und Abschreckung zu entscheiden. Mit Max Weber gesprochen, wechselt er von der Gesinnungsethik seiner Profession zur Verantwortungsethik seiner demokratischen Regierung. Dies fällt ihm umso leichter, als auch kompetente Grüne in ihr sitzen. Muss er gar Joschka Fischer, ihrem einstigen Realo, zustimmen? Fischer forderte Europa jüngst dazu auf, der nuklearen Erpressung Putins mit einer eigenen atomaren Abschreckung zu antworten; im Klartext: zur Abschreckung mit eigenen Atomwaffen aufzurüsten. »Die Welt hat sich verändert«, so Fischer. Ein gutgläubiger Pazifismus der Psychoanalyse sollte dieser Veränderung nicht zu sehr hinterherhinken.
Traurige Ironie der Geschichte: Abermals steht die Zukunft einer Illusion zur Debatte. Allerdings für einmal nicht der Religion – sie darf sich im Falle Putins und des russisch-orthodoxen Christentums ihrer Traditionsmacht gewiss sein –, sondern der Illusion einer dauerhaft stabilen Friedensfähigkeit menschlicher Gesellschaften und Kulturen. Dass ein jahrhundertelanger Krieg gegen die Natur dazugehört, versteht sich von selbst. Ukraine-Krieg und Krieg gegen die Natur sind heute zwei Seiten desselben Blattes. Und seine aktuelle weltpolitische Färbung besteht in der Erkenntnis, dass die Ukraine und Israel ebenfalls zwei Fronten im selben Krieg bilden: ein Großangriff auf liberale Demokratien, Attacken auf die Grundwerte der Aufklärung, Barbarei und Bestialität gegen Zivilisation (vgl. Herzinger 2023; Schmid 2023).
Es lassen sich vor diesem Hintergrund ideengeschichtlich zwei Denkfiguren der politischen Philosophie ausmachen, die in der Psychoanalyse ihre Spuren hinterließen: die rousseauistische und eine hobbesianische. Die rousseauistische ruht auf der anthropologischen Vorannahme einer im Kern guten menschlichen Natur, die lediglich durch Gesellschaft, Kultur und Zivilisation unterdrückt, kompromittiert, verdorben, ja mit dem »Bösen« infiziert wird. Dieser Rousseauismus der inneren Natur wurde in der Geschichte der Psychoanalyse vor allem in der historischen Freud’schen Linken vertreten, am leidenschaftlichsten noch von Wilhelm Reich. Wie Rousseau selbst bezahlte er diese Leidenschaft an seinem Lebensende mit einer paranoiden Psychose und einem wissenschaftlichen Abstellgleis. (Bleibende Errungenschaften der beiden sind selbstverständlich unangetastet.)
Diese anthropologische Prämisse ist heute erneut falsifikationsgefährdet, jedenfalls durch eine schwindende Friedensdividende in arge Bedrängnis geraten. Auch in dieser Hinsicht drängt sich eine »Wissenswende« im erwähnten Sinn auf. Sie zwingt die psychoanalytische (Kriegs-)Forschung zu einer historisch-kritischen Clausewitz-Lektüre (vgl. Aron 1980; Girard 2014), um diesem nach dem Ende des putinfreundlichen »Russland-Komplexes« illusionslos zuzustimmen: »[…] denn in so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind die Irrtümer, welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten.«
Der Ukraine-Krieg und eine neue geopolitische Weltlage lassen in der Psychoanalyse das Pendel einmal mehr zu den ideengeschichtlichen Erbschaften von Hobbes neigen. Schon Freuds Einsichten in den unauflöslichen Nexus von Gewalt und Recht in seinen Arbeiten zum Krieg sprechen dafür. In der zeitgenössischen Psychoanalyse wird ein Krypto-Hobbesianismus am ehesten in kleinianischen oder lacanianischen Ansätzen repräsentiert. Beide haben in neueren Allianzen zwischen Kritischer Theorie und Psychoanalyse längst ihre Positionen eingenommen (vgl. Heim 1993, 2007, 2020, 2022; Allen 2023). Und beide vertreten im Sinne von Hobbes zwei Konstruktionen eines theoretisch fiktiven, aber klinisch validierbaren, zudem sozialisatorisch modifizierbaren »Naturzustandes« (die paranoid-schizoide Position und das Spiegelstadium im ersten Lebensjahr), in dem in unbewussten Phantasien feindselige und destruktive Kräfte wirksam sind. Erst so kann auch das Böse psychoanalytisch gedacht werden (vgl. Haubl & Sutterlüty 2016; Heim 2016).
Beide zentralen Konzepte der heutigen Psychoanalyse sind im Umfeld des 2. Weltkrieges und des Holocaust entstanden und damit gleichsam geschichtsgesättigt. Sie enthalten in dieser Fiktion Phantasmen der Verfolgung und Zerstörung, von Rache und Ressentiment, von Revanche und Vergeltung (vgl. dazu Fleury 2023; Wirth 2023). Auch hier herrscht destruktive Stärke vor einem Rechtsausgleich von Triebansprüchen, phantasmatische Gewalt vor einem symbolisch geregelten Vertrag in der inneren Realität. Das Pathos einer guten menschlichen Natur bleibt eine euphemistische Abwehr und Kulturheuchelei einer undialektisch verstandenen Aufklärung mit ihrem linearen Fortschrittsoptimismus. Deswegen schätzten Horkheimer und Adorno neben Kant, für den schon das »radikal Böse« ebenso wenig wie für Freud »auszurotten« ist, folgerichtig die »dunklen Denker« einer offenen Aufklärung: Sade, Nietzsche …
Beide Konzepte halten schließlich Auswege aus diesem primordialen Zustand bereit: die depressive Position, das Containing, ein Primat des Symbolischen, Empathie und Sublimierung, Kreativität und Rationalität des Handelns. Also nicht gleich ein Leviathan der psychoanalytischen Art, wenn auch ohne staatstheoretische Begründung wie bei Hobbes; aber doch das Äquivalent eines inneren »Gesellschaftsvertrages«, der um seine notwendigen Triebverzichte genauso weiß wie er seine Ansprüche auf Lust und Genuss kennt. Abgesehen davon, dass die Frage nach einer »menschlichen Natur« nicht ahistorisch gestellt werden sollte.
Sicher aber entsprechen die genannten Phantasmen psychohistorisch exakt der paranoiden Struktur, in die sich Putins neoimperialer Geschichtsrevisionismus hineinmanövrierte. Nahezu jede Verlautbarung der russischen Staatspropaganda lässt Indizien dieser Struktur erkennen, die aus lauter Projektionen und Schuldzuweisungen an den Westen, an die USA oder die Nato besteht. Gerade die paranoid-schizoide Position ist ein psychisches Modell der »Eskalationsdominanz«, als deren politischer Meister bekanntlich Putin gilt.
Melanie Klein beschrieb in der inneren Realität dieser Position einen Circulus vitiosus, der als Äquivalent dieser Eskalation gelten kann. In der Psychologie des Krieges gibt es den homologen Begriff des Escalation commitment: Putin muss seinen in die Länge gezogenen Krieg bis »zum Äußersten« (Clausewitz) führen, es gibt für ihn machtpolitisch kein Zurück mehr; deswegen kann mit ihm auch nicht verhandelt werden. Zum Äußersten gehören die nuklearen Drohgebärden, ein taktischer Atomschlag gegen ukrainische Ziele. Seine propagandistische und strategische Produktion von Angst führt hierzulande zu einer bis in höchste Regierungsstellen verbreiteten Zögerlichkeit, die von einer »Eskalationsobsession« (Claudia Major, deutsche Sicherheitsexpertin) geprägt ist. Der neue geopolitische Circulus vitiosus gewinnt damit eine paranoide Dynamik, die die Weltgeschichte freilich schon längst kennt. Mit dem Terror der Hamas gegen Israel schreibt diese Dynamik seit Oktober 2023 ihr neuestes Kapitel. Auch dieses Kapitel steht unter den Zeichen von Bedrohung und Vernichtung, Vergeltung und Rache und kommt der Kriegsführung Russlands gerade recht.
Bei alledem bedeutet das Wort von der Zeitenwende eine Erinnerung an eine Zeit, in der Adorno in der Frühphase des Kalten Krieges diese paranoide Struktur auf den Punkt brachte. Damals ging es noch um einen »Paranoid Style in American Politics« (Richard Hofstadter); inzwischen hat dieser Stil die Seiten wieder von Washington nach Moskau gewechselt. Was Adorno 1955 in Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie festhielt, bleibt als lange Welle der Geschichte virulent – weil diese in der menschlichen Triebstruktur auf eine ubiquitäre psychische Disposition trifft (vgl. Heim 2019):
»Wohl aber lädt eine Situation, die alle bedroht und mit manchen Errungenschaften die paranoiden Phantasien übertrifft, die Paranoia spezifisch ein, der die dialektischen Knotenstellen der Geschichte vielleicht überhaupt besonders günstig sind.«
Nach 1945 und 1989 befinden wir uns seit 2022 an einer weiteren historischen Knotenstelle. 1968 und die Folgen gehören am Rande natürlich dazu, schließlich heute im Zentrum die planetarischen Bifurkationen von Klimawandel und Anthropozän. Es sind diese Knoten, die die Nachkriegsgenerationen in ihren Wissenschaftsbiografien mit einem inneren Band verknüpfen. Dieses Band zu entwirren gehört zu den anstehenden Aufgaben psychoanalytischer Forschung auf der Höhe ihrer Zeit. Man mag dies im Besonderen der jüngeren Generation in der GfpS empfehlen, die nach Kontinuitäten und Brüchen in der Tradition psychoanalytischer Sozialpsychologie fragt. Die Kontinuitäten sind seit den 1930er Jahren dieselben geblieben: Erklärungsmodelle für Faschismus, Totalitarismus, Krieg, Hass, Terror, Gewalt und Barbarei, für die »Abstoßungen« (Freud) zwischen Völkern, Nationen und Religionen, für eine »freiwillige Knechtschaft« (Etienne de la Boétie) und Unterwerfungsbereitschaft, für die Angst vor der Freiheit.
Insgesamt ein weiterer Abschied von Illusionen, für die Freud schon 1915 mitten in einem Krieg die passende Formel bereithielt:
»Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal mit einem Stück Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.«
Deswegen heute erneut das brennende Dauerthema: Weswegen ein »radikaler Universalismus« (Omri Boehm, israelischer Philosoph) so schwer zu verwirklichen ist – nach dem 7.10.23 noch schwerer. Es bleibt für jede Ethik der Psychoanalyse eine anspruchsvolle Aufgabe, diesen radikalen Universalismus in ihre Konzepte der Sublimierung aufzunehmen und damit ihre pazifistische Gesinnung auf dem Hintergrund der aktuellen Kriege neu zu justieren. Aber auch Boehms radikaler Universalismus könnte wie seine Utopie eines ethnisch neutralen bi-nationalen Staates von Juden und Palästinensern, nicht zu verwechseln mit einer Zwei-Staaten-Lösung (vgl. Boehm 2015; 2022), eine Illusion bleiben.
Historisch besehen dürften 2022/2023 mit der Wissenswende auch für die Psychoanalyse Jahre eines Paradigmenbruches sein. Wie Freud 1915 stehen heutige Psychoanalytiker und ihre Nachbarwissenschaften inmitten eines Angriffskrieges in Europa, der die Disziplinen an ihre Grenzen stößt und ihre Begriffe schärft. Erst recht gilt dies für die psychoanalytische Antisemitismus-Forschung nach dem Hamas-Massaker und seinen Auswirkungen auf die internationalen Metropolen. Man kann an Alexander Mitscherlichs Vortrag über die Aggression von Großgruppen anlässlich des IPV-Kongresses 1971 in Rom erinnern: Vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges schleuderte er der damaligen psychoanalytischen Internationale entgegen, die Geschichte werde »alle unsere Theorien [hinwegfegen]«, wenn diese Aggressivität und Destruktivität nicht im historischen Kontext zu erklären in der Lage sind. Er riet ihr also, mehr sozialpsychologisch und historisch zu denken, eine Wissenswende in der Psychoanalyse auf die Höhe der Zeit mit ihren »Knotenstellen« zu bringen.
Zeitgemäßes über Krieg und Tod könnte schließlich für eine ältere Generation mit den knapp 30 Seiten zu ihrer wichtigsten Schrift Freuds werden. Nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges und kurz vor seinem Tod sprach Freud noch von »seinem letzten Krieg.« Diese Generation wird mit den Angriffen auf die Ukraine und Israel von sich langsam sagen können: unsere letzten Kriege.
Mit dem Terror gegen Israel und seinen Folgen könnte sich allmählich die Stimmung von Freuds letztem Eintrag in seiner Kürzesten Chronik, seinem lapidaren Tagebuch 1929-1939, wiederholen: »Kriegspanik« (vgl. Freud 1996). Ein sich anbahnendes geostrategisches Bündnis zwischen Russland, China, Nordkorea und Iran gegen den liberalen Westen dürfte die kommende multipolare Epoche prägen und die Risiken weiterer Flächenbrände erhöhen (Osteuropa, Naher Osten, Taiwan). 2024 wird in der seriösen deutschsprachigen Presse als annus horribilis (Die Zeit), als »Höllenjahr« (NZZ) angekündigt. Der Friede sitzt derweil, um es mit der Frankfurter Friedenspreis-Rede von Salman Rushdie zu kolportieren, lächelnd unter einem Baum. Doch der Pazifist Freud blickt verzweifelt auf die Wahrheit im ersten Passus seines Eingangszitats.
Sein Schlusswort am Ende von Warum Krieg? bekanntlich: Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet dem Krieg entgegen. Deshalb wünscht man sich ganz im Sinne der Wiener Philharmoniker in ihrem legendären Neujahrskonzert ein rituelles: Prosit Neujahr!